Die Neurose verleugnet die Realität nicht, sie will nur nichts von ihr wissen.
(Sigmund Freud)

Denken Sie auch manchmal, dass der Herd noch an ist, wenn Sie schon im Zug sitzen? Oder leiden Sie an Gotteskomplexen (nächtliches Wachliegen und/oder Schuldgefühle, weil Sie glauben, etwas gesagt zu haben, das jemand anderen zutiefst erschüttert hat, obwohl dieser sich gar nicht mehr daran erinnert)? Erleben Sie manchmal den Fußgänger-Magnetismus (jemand kommt Ihnen entgegen, Sie wollen ausweichen, aber der andere weicht gleichzeitig aus und immer so weiter - Stichwort: Wiederholungszwang) oder die Kommunikations-Rückkopplung (angespannte Situation – beide schweigen – beide fangen gleichzeitig an zu sprechen – schweigen – gleichzeitiges Anfangen, usw., usw.)? Willkommen im Club der Neurotiker!

Neurotische Identitäten bewegen sich immer an den Rändern des Common Sense. Etwas will hinaus, etwas will bleiben und etwas kann sich nicht entscheiden.
Ein Beispiel: Wäre die Neurose ein Kleidungsstück, sie wäre eine Hose mit unzuverlässigem Reißverschluss; idealerweise beim ersten Rendezvous getragen, so dass man ständig gezwungen wäre, sich im Schritt herumzunesteln. Was ja das ist, was man in dieser Situation am wenigsten tun möchte, weil es das ist, was man eigentlich am liebsten tun würde.

Die Zoologie der Neurosen ist vielfältig, dazu einige Beispiele:

Die Verspätungsneurose befriedigt den Wunsch nach Verzeihungs-aufmerksamkeit. Sie lebt von dem Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Aufmerksamkeit und dem Wunsch, sich zu entschuldigen. Verspätungsneurotiker stehen gerne im Mittelpunkt, schämen sich aber dafür. Dahinter steht eine milde Form von Masochismus, bei der die Belohnung-Bestrafung des hoffentlich verziehenen Vorwurfs genossen wird. Verspätungsneurotiker fürchten nichts so sehr wie die Leere des existenziellen Nichts.
Deswegen wird das Loskommen von Zuhause (hier besteht eine enge Verwandtschaft zur Nicht-Loskomm-Neurose) durch diverse, möglichst unübersichtliche Aktivitäten verzögert, die jedem Moment den Anstrich von Überfülle verleihen. Die mögliche Ereignislosigkeit einer Verabredung wird durch die gesteigerte Dramatik der Verspätung zu einem unvergesslichen Erlebnis. Sofort ist man emotional verwickelt in aufwendig inszenierten Rechtfertigungen gegenüber Vorwürfen, Entschuldigungen, etc. Die Verspätungsneurose verhält sich direkt komplementär zur Warteangst-Neurose.
Warteangst-Neurotiker vermeiden die existenzielle Leere des Wartens auf das Loskommen durch Aktionismus. Deswegen sind sie immer zu früh. Bei der Nicht-Loskomm-Neurose wird dagegen der Aufschub des Unerledigten genossen. Nicht-Loskommer treiben ihre Partner regelmäßig an den Rand des Wahnsinns (besonders wenn es sich um Warteangst-Neurotiker handelt). Diese Art der Neurose erfüllt mehrere Funktionen. Sie verdichtet den Moment des Nicht-Loskommens zu einer Intensität, die libidinös hoch aufgeladen ist: Adrenalin wird freigesetzt, der Partner wird in einen breit gefächerten Erregungszustand mitverwickelt, dessen Hass-Liebe geradezu prä-koitale Dimensionen aufweist, während zugleich die Liebe auf die Probe gestellt wird. Es ist diese Angst-Lust, die für sämtliche Neurosen kennzeichnend ist: Die Angst, die Geduld anderer überzustrapazieren und die Lust daran, trotzdem weiter geliebt zu werden.
Die Nicht-Loskomm-Neurose ist ebenfalls verwandt mit der Leg-du-zuerst-Auf-Neurose, die besonders bei engen Freunden oder Geschwistern vorzufinden ist. Die ausgiebige Nähe des Telefonats wird immer weiter bis zum Überdruss verlängert, bis der Überdruss selbst schon Teil des Spiels und damit überwunden wird.

Weitere Phänomene:

-    Reuiges Querulantentum
-    Blamagen-Koketterie
-    Dramatisches-Kochen-Neurose
-    Hätte-hätte-Neurose (siehe auch Konjunktiv-Zombies)
-    Toiletten-Telefonate
-    to be continued (Nie-Fertig-Werd-Neurose)...